Dekantieren | Karaffieren


Wozu? Warum? Wie?

Dass man den Pinot Grigio von der Tankstelle nicht dekantiert, leuchtet ein. Er würde blitzschnell im Weinglas sein Aroma und seine Spritzigkeit verlieren, schlapp machen, plump werden und noch matter und müder werden, als er es vorher schon war.

Jeder hochwertige Wein aber, egal ob rot oder weiß, braucht Sauerstoff, um Aroma, Geschmack und Wirkung entfalten zu können. Dazu füllt man ihn in eine Karaffe. Alleine schon dieser Vorgang des Umfüllens von der Flasche in die Karaffe bringt den Wein mit ausreichend Sauerstoff in Verbindung, um einen chemisch-physikalischen »Reifeprozess« in der Karaffe in Gang zu bringen.

Dabei ist die Form der Karaffe weniger wichtig, als uns deren Hersteller Glauben machen wollen. Eine Blumenvase tuts technisch auch. Dabei ist eine möglichst große Oberfläche von Vorteil, aber schon beim Befüllen der Karaffe bekommt der Wein den entscheidenden Kontakt mit dem Sauerstoff, denn das Dekantieren ist ein thermodynamischer Prozess. Der hängt von vier Faktoren ab, von denen man nur zwei unmittelbar beeinflussen kann: Druck (nicht zu beeinflussen), Temperatur (wäre zu beeinflussen), Zeit (die der Wein braucht, um seine chemisch physikalischen Prozesse der »Reife« in der Karaffe in Gang zu setzen) und schließlich der Diffusionskoeffizient (z. B. für das Wachstum der Polymerketten der Gerbstoffe im Rotwein; kaum zu beeinflussen bzw. seinerseits eine Funktion von Druck und Temperatur). Für Sie zu Hause bedeutet diese trockene Theorie ganz praktisch, dass ausschließlich die Dauer des Dekantierens den Wein in der Karaffe verändert. Es ist der Diffusionskoeffizient des Sauerstoffs, der den Prozess steuert. Insofern sollte jeder Wein mindestens eine halbe Stunde Zeit in der Karaffe bekommen, besser wären eine und, je nach Rebsorte und Qualität des An- und Ausbaus, auch viele Stunden.

(Das erklärt, warum z. B. die berühmt berüchtigte Venturi-Düse, die angeblich das Dekantieren »beschleunigt«, keinerlei Sinn macht. Sie ist physikalisch sinnlos. Ein Topf und ein bisschen Zeit können es billiger.)

Hochwertige Weißweine, vor allem jene, die spontan vergoren und im Holzfass ausgebaut wurden und dort vielleicht auch noch lange auf der Fein- oder auch Vollhefe reifen durften, gewinnen in der Regel, wenn sie sich über Stunden in der Karaffe entwickeln.

Hochwertige Rotweine entwickeln ihre komplexen aromatischen Inhaltsstoffe und ihre Gerbstoffketten erst, wenn sie ausreichend lange in der Karaffe atmen können. Durch den Sauerstoffkontakt verlängern sich die Polymerketten ihrer Gerbstoffe so, dass sie tatsächlich physikalisch länger werden, was man buchstäblich physisch auf der Zunge fühlen kann. Sie holpern dann nicht mehr kurz, trocken und adstringierend über das Kopfsteinpflaster der Papillen auf der Zunge, sondern sind so lang geworden, dass sie über die Geschmackspapillen gleiten und sich dadurch süßlich, reif und feiner anfühlen, was man in spürbar längerer Wirkung auf der Zunge und am Gaumen nachvollziehen kann. Dünnschalige und deshalb besonders sauerstoffempfindliche rote Rebsorten wie Pinot Noir oder Sangiovese dekantiere man deshalb nur nach ausdrücklicher Empfehlung.

Wir geben für alle Weine explizit an, ob Sie dekantiert werden sollen und meinen dann damit, dass Sie sie mindestens eine halbe bis eine ganze Stunde in der Karaffe reifen lassen sollten, bevor Sie sie genießen.

Zu junge Rotweine kann man durch Dekantieren übrigens nachhaltig stören. Sie verändern sich dann so stark, dass sie sich durch den Sauerstoff verschließen und dann stumpf, matt und buchstäblich kurz wirken auf der Zunge. Zu alte Rotweine kann man durch Dekantieren zerstören, weil man ihren ohnehin schon langen Gerbstoffketten den Rest gibt. Sie zerfallen buchstäblich und werden schnelles Opfer des Sauerstoffeinflusses.

Sollten Weine, egal ob weiß oder rot, aus unserem Programm besondere Behandlung nötig machen, erwähnen wir das ausdrücklich in der jeweiligen Beschreibung. Und nun viel Spaß mit dem Sauerstoff im Wein!


© K&U